katharinakraemer
  Philosophisches
 


Das Leben in all seinen Schattierungen bietet für einen "Schreiberling" reichlich Stoff aus dem die Texte wachsen. So habe ich mich in all den Jahren vielfach mit der Philosophie beschäftigt. Herausgekommen sind dabei verschiedene Texte, die ich ganz oder teilweise hier veröffentliche.



Die Zeit 

Die Zeit bleibt nie stehen,
einzig die Erinnerung friert Augenblicke ein wie ein Photo,
das die Vergangenheit wieder lebendig macht.

Zeit ist ein kostbares Gut,
das gemeinsam erlebt für die Ewigkeit reicht.

Manch Jahr ist eine Ewigkeit, ein anderes eine Kleinigkeit,
doch immer bleiben Augenblicke, Tage, Wochen, Monate,
die viel zu schnell geraten, als Erinnerung zurück.
Jahre vergehen, die Welt ändert ihr Gesicht,
das Photo vergilbt, nur die Erinnerung nicht.

Der Unterschied zwischen Distanz und Entfernung liegt darin,
daß man 
Entfernungen leichter überbrücken kann.

Nur was man vermißt, weiß man zu schätzen.

Es gibt immer einen Weg,
solange man das Ziel nicht aus den Augen verliert.



Eden – ein Garten

 (Ein Kapitel für sich)

Ein neuer Tag erwacht, die Sonne blickt durch blasse Baumwipfel auf eine noch junge Landschaft. Die weißen Kelche der ersten Schneeglöckchen vertreiben das Grau des vergehenden Winterschlafs. Auch die anderen Frühlingsboten recken neugierig ihre Knospen aus dem Boden dem sanften Licht der aufgehenden Sonne entgegen. Und der auflebende Morgen gibt nach und nach den Blick frei auf einen Garten, dessen Ausdehnung nicht auszumachen ist. Sanft aber bestimmt verscheucht die Sonne den aschgrauen Nachtnebel und läßt den Blick frei auf einen Garten, der nach und nach Gestalt annimmt.

Gerade zu dieser frühen Stunde ist es noch sehr ruhig, kaum ein Lüftchen regt sich, aber allmählich erkennt man einen unendlich anmutenden Garten. Er wirkt so weitläufig, daß man glaubt, ewig laufen zu müssen, um alle Winkel kennenzulernen, und so unermeßlich, unheimlich und fremd, daß man schon Bedenken hat, die ersten Schritte hineinzugehen und alles auf sich wirken zu lassen. Doch die kindliche Neugierde siegt über die Scheu vor dem Unbekannten. Man kann nicht umhin, diese unbekannte Stimmung auf sich wirken zu lassen, zaghaft voranzugehen und die ersten unsicheren Schritte zurückzulegen. Man weiß noch nicht, was man sehen wird, was einen erwartet; aber voller Erwartung, Fröhlichkeit, Vorfreude und Optimismus stürzt man sich in diesen Garten und beginnt, ihn Schritt für Schritt auszukundschaften.

Man stelle sich das Leben als diesen Garten vor, in dem für jeden Menschen Platz ist, wo jeder sich selbst entwickeln kann und darstellen darf, wo durch das jeweilige Denken, Handeln und Fühlen und die individuellen Phantasien immer wieder Neues entsteht, wo jeder seine Aufgabe hat, wo jeder Mensch seine eigenen Möglichkeiten der Entfaltung hat. Dieser Garten lebt und wächst durch die Lebewesen, die in ihm gedeihen, und in den Menschen selbst. Alles Streben von Mensch, Tier und Pflanze ist ursächlich darauf gerichtet, den Garten zu gestalten und mit Leben zu füllen. Und der Mensch wächst mit der Zeit in seine Aufgabe hinein, alles Leben in diesem Garten zu hegen und zu pflegen. Da wird der Mensch zum Menschen, dort darf er leben, dort darf er sein ganzes Dasein einbringen und versuchen, alle Winkel und Wege zu erobern. So wächst der Mensch in seinem Garten, um von Anbeginn seiner Zeit über die Wege zu wandeln. Und in jedem Menschen formt sich ein eigener Garten, der Teil seiner Gedanken und seines Gefühlsgutes wird.

Ursprünglich ist der Mensch in diesem Garten auch glücklich, denn es gibt für ihn nichts Aufregenderes, nichts Unergründlicheres, nichts Schöneres und nichts Traurigeres in seinem Diesseits als sein Leben selbst und nichts ist gegensätzlicher. Allerdings wird es wohl immer ein Geheimnis bleiben, was in einem Menschen abläuft, während seine Lebensuhr unaufhaltsam vorwärtsstrebt. Nur schwer wird er die Zusammenhänge zu begreifen, die zu dem seinem oder einem anderen Lebenslauf führen.

So unterschiedlich menschliche Fähigkeiten und Voraussetzungen, Träume, Wünsche und Vorstellungen sind, so verschieden sind die Wege, die jeder Mensch durch diesen Garten sucht und findet. Es ist ein einziges, einmaliges Abenteuer, vom ersten bis zum letzten Atemzug. Gerade weil sich das Leben in vielen Dingen voneinander unterscheidet, aber immer auch irgendwie voneinander abhängt und gleicht, potenzieren sich die möglichen Lebenswege ins Unendliche. So wie es unzählige Pflanzen und Tiere gibt, so vielfältig sind die Varianten menschlicher Existenz. Kein Weg gleicht dem anderen, sobald sich auch nur ein Bestandteil ändert. Man kann einen Weg zwar zweimal gehen, er wird allerdings schon dadurch divergent, wenn man ihn mit anderen Menschen geht oder in einer anderen Stimmung, mit neuen Gedanken, Gefühlen. Dann verändert sich das Gesicht der Umgebung, die Farben des Gartens werden leuchtender oder auch blasser, es wird mal bunter und mal grauer sein. Doch es bleibt immer das eigene Leben.

Für jeden Menschen hält der Garten Bewährungsproben, Denkanstöße, Nackenschläge und auch viel Schönes zur Bereicherung des Lebens bereit. Bei manchen Menschen setzen schon gleich zu Beginn die Schwierigkeiten ein. Dennoch vertrauen sie mehr oder minder auf ihre eigenen Fähigkeiten, wie auf die Fürsorge und Hilfe ihrer Umgebung. Dadurch schaffen es die meisten, auch aus schlechten Voraussetzungen, eigene Ziele zu formulieren und zu erreichen. Andere haben das Glück, daß sie eine mehr oder weniger lange Zeit ohne viel „Hick-Hack“ durch den Garten des Lebens vorangehen dürfen. Aber auch sie sind nicht von Prüfungen und Aufgaben befreit, deren Bestehen das Weiterkommen sichert. Denn vom Paradiese ist dieser Garten doch sehr weit entfernt, ein Schlaraffenland gibt es nicht. Es gilt, seiner eigenen Rolle, seiner Position, seinen Aufgaben gerecht zu werden. Einige bewältigen dies ohne große Probleme; für sie bedarf es wenig großer Anstrengung, andere mühen sich redlich und kommen doch kaum vom Fleck – so scheint es zumindest. Doch vielleicht haben es Erstere auch deswegen vermeintlich leichter, weil sie andere Voraussetzungen mitbringen, oder andere Bedingungen an sich selbst und ihr Leben stellen. Oder sind die Grundlagen für alle gleich, nur wir sehen das subjektiv anders? Nicht immer kann es für jeden bergauf gehen, harmonisch geradeaus, immer der Nase nach, ohne Schwankungen. Es wird immer ein Auf und Nieder geben, nur die Wellenhöhe ist individuell.

Nach welchen Gesetzen funktioniert das Leben? Und wer setzt die Grenzen, so es sie gibt? Die meiste Zeit verbringt der Mensch damit, Unkraut zu säen und zu jäten, Hütten zu bauen und Mauern einzureißen, Menschen zu führen oder selbst geleitet zu werden. Da das auf Dauer allerdings sehr langweilig und eintönig wäre, bietet das Leben für jeden Menschen immer die Möglichkeiten, die man sich selbst offen läßt: Blumen züchten, Bäume wachsen sehen und den Anblick genießen, den man sich selbst geschaffen hat. Es gelingt nicht jedem das wahre Gesicht dieses Gartens zu ergründen, dem einem mehr, dem anderen weniger. Doch hätte jeder die Gelegenheit dazu. Wer sich selbst beschränkt, eingrenzt, sich selbst nichts gönnt, dem bietet das Leben nur das, was dann noch übrig bleibt: NICHTS.

Auf der Wanderung durch den Garten des Lebens begegnen einem immer wieder Pflanzen, die man nicht oder noch nicht kennt; Menschen, die wie man selbst auf der Suche nach dem „Weg der Erkenntnis“ sind; Menschen, deren Rat und Erfahrung hilfreich für den eigenen Weg sein kann; Abenteuern, in denen man der Held der Geschichte ist und andere, aus denen man als Verlierer hervortritt; Früchte, die erfolgversprechend wachsen, um dann doch zu vergehen; Auswirkungen, die wir als unwert ansehen, weil wir ihren Nutzen nicht erkennen wollen; Ergebnisse, die den Einsatz gelohnt haben. Als jungem Menschen helfen einem die Eltern, Freunde und Bekannte, aber nach und nach wächst das Vertrauen in die eigene Urteilskraft und man geht die ersten Schritte allein durch seinen Garten.

Die Lebenswege der Menschen sind so verschieden, unbekannt, charakteristisch wie die Menschen selbst. In einem Punkt ist das Leben jedoch für alle gleich: es begründet sich aus der Phantasie und dem Ideenreichtum, dem Wissen, dem Denken, dem Fühlen und dem Handeln jedes einzelnen. Nur die Inhalte dieser Phantasien, Gedanken, Gefühle und Taten eines jeden Menschen sind individuell. In diesem Garten des Lebens, der keinesfalls ein Garten Eden sein muß – und auch nicht sein will – kann es unter aussichtsreichen Vorzeichen, dem entsprechenden Einsatz und konsequenter Ausnutzung aller positiven Dinge paradiesisch sein, zu wandeln. Die Vielfalt lebendigen Seins, die schier unerschöpfliche Vielfalt an Pflanzen, Tieren und Wegen, eröffnen jedem ungeahnte Möglichkeiten. Wenn es dem Menschen beispielsweise gelingt, während seines mehr oder weniger langen Spaziergangs gerade die schönsten Fleckchen Erde, die besten Entscheidungen, die bequemsten Wege oder die richtigen Partner für seine Ziele zu finden. Dabei sind es nicht immer die geraden, scheinbar harmonischen Wege, die zu den Traumorten führen. Es sind auch nicht immer die ersten Ideen die besten, und manche Menschen zerstören hinter unserem Rücken das eigene Werk, obwohl wir ihnen vertrauten.

Manchmal liegen unsere Ziele versteckt hinter einer unscheinbaren Wegbiegung, manchmal geradewegs vor uns und wir sehen sie trotzdem nicht. Auch heißt „Paradies“ nicht, daß man „Alles“ hat. Es sind ja auch nicht immer die Pflanzen am schönsten, die groß und herrlich anzusehen sind. Das einzelne, kleine Gänseblümchen, die unscheinbare Feldblume am Wegesrand haben manchmal mehr Schönheit und persönlichen Nutzen als ein ganzes Beet voller Baccararosen … Da einem dagegen auch nichts geschenkt wird, muß man das meiste selbst dazu beitragen, damit man seinem Ziel ein wenig näher kommt. Hilfreich sind dabei gute Freunde, die einen darin unterstützen, die rechte Wahl zu treffen. Wer dabei immer nur auf die Erfolge oder Mißgriffe anderer und seine eigenen Fehler schaut, verliert ein Stück seines Weges aus den Augen und möglicherweise wird dann sein Weg zu einem Irrgarten, aus dem er nicht mehr allein herausfindet. Manchmal findet man allein wieder aus dem Wirrwarr an Wegen heraus, ein anderes Mal aber verstrickt man sich so sehr, daß kein Ausweg zu sehen ist. Dann wird das Leben zur Qual. Dann kann man sich vor Kummer und Sorge nicht mehr frei den Freuden hingeben, die das Leben trotz aller Widrigkeiten hat, dann wird jede Entscheidung ein Schritt ins Ungewisse, Unheimliche, Fremde. Dann kennt man sich nicht mehr aus, in seinem Leben und in sich selbst, und wird so sich selbst ein Fremder. Und die anderen werden zu selbsterklärten Feinden, weil sie es ja schaffen, weil sie es besser haben. Die eigene Gegenwart wird zur Vergangenheit, die Zukunft schlicht unerreichbar. Dunkel bleibt, was es noch zu erleben gilt. Manchmal kann es aber auch sein, daß die Vergangenheit in der Zukunft liegt, noch entdeckt werden muß. Dann wird die eigene Geschichte zu dem Fremdkörper, der eigentlich Zukunft heißt.

Wer immer nur in einer Dimension denkt und lebt, verliert den Bezug zur Vieldimensionalität des Lebens. Wer immer nur auf eine bestimmte Pflanze setzt, wer immer gleiche Wege geht, verliert sich bald in einer grauen, nichtssagenden Welt, aus der er nicht mehr herausfindet. Er verstrickt sich in seiner eigenen Welt. Dann kann es passieren, daß man sich wünscht, es noch einmal versuchen zu dürfen, dann wird die Vergangenheit zu einer bösen Erinnerung, vor der man Angst hat. Ein Garten mit nur wenig Pflanzen, wenig Wegen und wenig Begegnung bietet zwangsläufig nur wenig Abwechslung, Anregung und Abenteuer, wenn auch einen gewissen Schutz und eine trügerische Sicherheit. Denn viel zu schnell kennt man jeden Winkel, jeden Baum und jede Wiese. Und irgendwann übersieht man diese, da sie in das Bild eingebrannt werden. Der Mensch gewöhnt sich an sein Leben, und er verliert die Beharrlichkeit und Fähigkeit, neugierig zu sein. Immer wieder kommt man an der gleichen Wegbiegung an und trifft so auch immer auf dieselben Wegbegleiter. Solche, die einem nicht weiterhelfen und solchen, die es gut mit uns meinen. Und ob sich ausgerechnet auf diesen Wegen der „Baum der Erkenntnis“ finden läßt, ist schnell ausgemacht. Wer ihn dann nicht findet, kann leicht in Resignation oder Depression verfallen, anstatt sich aufzumachen, einen neuen Garten zu suchen, der diesem Baum vielleicht eine Heimat bietet und somit sich selbst. Es ist aber utopisch anzunehmen, daß es irgendwo einen wahren neuen Anfang gibt. Dazu müßte man blind und nackt wie ein neugeborenes Baby in einen neuen Garten hineingeboren werden. Wenn man den Pflanzen und Tieren um sich herum Namen gibt, dann wird das Bild dieses Garten Eden noch anschaulicher. Vom gemeinen Gänseblümchen über die grazile Rose bis hin zu festverwurzelten Eichenbäumen finden wir facettenreiche, bekannte und exotische Pflanzen, die den Charakter des Gartens ausmachen. Wichtig ist, daß ein ausgewogenes Maß an Vielfalt existiert und gedeihen kann. Aber nicht die Menge macht es, sondern die Zusammensetzung und die Auswahl. So hat jeder Garten die Möglichkeit, allen Pflanzen Heimat und Zuflucht zu sein. So wie der Mensch nicht alle Fähigkeiten in sich vereinigen kann, muß der Gärtner sorgfältig abwägen, welche Pflanzen er fördern, welchen Pflanzen er auf seinem Boden wachsen lassen will und kann. Dies ist die Frage aller Fragen: Was paßt zu mir? Wer bin ich? Was will ich? Und wohin führt mein Weg? Das Leben besteht von Anfang an aus Fragen, deren Beantwortung unser aller Ziel ist, oder besser sein sollte.

Der Garten bietet jedem Menschen alle Antworten, man muß nur die Zeichensprache des Lebens verstehen lernen. Dann erübrigen sich viele Fragen von selbst, da man die Antwort schon gefunden hat. Manche Menschen suchen verzweifelt danach, indem sie immer wieder neu die gleichen Fragen stellen. Sie glauben, daß sie damit eine neue Antwort erzwingen können. Sie vergessen meist nur richtig hinzusehen, hinzuhören, was die Umgebung und sie selbst zu sagen haben. Manche Menschen stellen sich dem jedoch kaum, finden aber dennoch immer wieder eine Lösung, die sie zufriedenstellt. Das Leben eines Menschen, gleichgültig wie lange es währt, egal welche Grundlage er mitbringt oder welchen Weg er geht, ist immer wieder neu; abenteuerlich, schön und manchmal traurig zugleich. Manches Mal ist es schön und ausgeglichen, geradlinig und zielstrebig, weil des Menschen Natur darauf ausgerichtet ist. Manch anderes Mal muß uns das Leben auch zeigen, daß es nicht nur Schokoladenseiten hat. Denn auch die traurigen Zeiten haben ihre Begründung, sie lassen uns die schönen Seiten zu wertvollen Momenten werden. Man muß sie nur erkennen und die Schatten akzeptieren lernen, auch wenn einem manchmal der Blick durch ungünstige Wahrnehmungen verstellt ist. Manches Mal erkennen wir das Schöne am Leben erst dann. Ein Leben, welches von offensichtlichen Widrigkeiten geprägt ist, bleibt dennoch lebenswert.

 Daß es nicht immer leicht ist, sein Schicksal, seine Irrtümer und Fehler zu akzeptieren, ist unbestritten. Doch kann man einen guten Teil seines Werdens selbst bestimmen, daran mitwirken, daß es nicht gar zu schwer wird und wenn dieses nicht zu verhindern ist, damit vielleicht doch besser klarzukommen. Doch wie fühlt sich ein Gärtner, dessen Beete verblühen, weil es zu trocken ist, und er kein Wasser findet, um wenigstens einen Teil seiner Ernte zu retten? Jeder Mensch trägt selbst die Verantwortung für sich, kann sie auch nicht auf andere abwälzen, obwohl dies manchmal einfacher zu sein scheint. Doch dann gibt man sein Leben in fremde Hände. Und das hat zur Folge, daß es nicht mehr das eigene Leben ist, was man lebt. Dann wird der eigene Körper zu einer atmenden, funktionierenden Hülle für eine Seele und einen Geist, die nicht mehr zusammenpassen. Der Versuch die Dreieinheit wieder herzustellen, erfordert einen enormen Kraftaufwand. Diesen Kampf führen auch die Menschen, von denen wir annehmen, daß sie nur selten auf der Verliererstraße wandeln. Und doch es lohnt sich immer, um diese Einheit zu kämpfen, auch wenn es noch so vergeblich scheint. Wer das Handtuch wirft, muß sich zwangsläufig als Verlierer fühlen, weil er den möglichen Sieg verschenkt hat. Es gibt Menschen, die „von der Sonne verwöhnt“ werden, und andere, die für einen einzigen Sonnenstrahl alles aufbieten müssen, wozu sie fähig sind und oftmals auch weit darüber hinaus. Wer allerdings dabei die wirklichen Sieger sind, läßt sich nicht in einem Satz festlegen. Sind es die, die Sonne geschenkt bekommen, oder jene, die sich einen Sonnenstrahl hart erarbeiten müssen? Sind es die, deren Ernte am höchsten ausfällt, egal mit welchen Mitteln sie gearbeitet haben? Sind es die, deren Ernte vielleicht weniger gut ausfällt, weil ihnen Unwägbarkeiten die Ernte verdorben haben, obwohl sie doch alles ihnen Mögliche getan haben, um wenigstens einen Teil zu retten? Es kommt weniger darauf an, wieviel Sonne einem Menschen vergönnt ist, sondern wie er die Zeit in der Sonne nutzt, was er daraus macht. Denn auch die Schattenseiten des Lebens bergen aussichtsreiche, schöne Erlebnisse. Ein Mensch, der zum Beispiel eine schwere Erkrankung, eine chronische Behinderung zu meistern hat, kann möglicherweise mehr Glücksmomente erleben, als ein Mensch, dem sein Glück zur Gewohnheit geworden ist, dem sein Lebenslauf keine echte Bewährung abverlangt.

Für manche bricht schon bei geringsten Problemen die Welt zusammen, andere sehen in großen Belastungen Herausforderungen und versuchen sie zu meistern; was vielen zweifelsohne auch gelingt, obgleich der Erfolg manchmal auf den ersten Blick nicht meßbar scheint. Wieder andere erleben ein ständiges Kommen und Gehen von Gewitterwolken und Sonnenstrahlen. Manche schaffen es dennoch, den Widrigkeiten zu trotzen, ohne sich dabei als Sieger, so doch als Partner der Schatten zu fühlen. Sie teilen sich das Terrain. Sie bauen sich eine Festung aus Menschen, die ihnen Trost und Hilfe in schweren Stunden bieten, die mit ihnen auch noch so kleine Erfolge zu feiern verstehen. Sie bauen eine Burg mit Wachtürmen, die alle Anzeichen von Problemen erkennen, die aber auch auf kommende schöne Zeiten hinweisen. Sie stellen sich in dem Wissen, niemals allein kämpfen zu müssen, gegen die Angst, gegen die Wut und Trauer, die an den Grundfesten dieser Burg nagen, mit der ihnen eigenen Zuversicht und dem Selbstvertrauen auch diese Hürde zu überwinden. Andere erleben das Auf und Ab als ständige oder zeitweise Bedrohung, sie leben von Gewitter zu Gewitter, ohne die Sonnenstrahlen zu sehen, die ab und an die Wolken aufreißen. Sie kennen nicht den Vorteil, füreinander und miteinander zu kämpfen, weil sie sich selbst auch nicht verteidigen. Um die schönen Seiten sehen und erleben zu können braucht man den anderen, weil man es nicht immer allein schaffen kann und auch nicht muß. Dazu braucht man die Hilfe der Umwelt, ob sie nun aus der Familie, von den Freunden oder von Fachleuten kommen mag. Aber die größte Energie wird dem Betroffenen abgerungen, denn er muß letztendlich entscheiden, welchen Weg er gehen will und muß; er allein ist letztlich für sich verantwortlich. Dabei ist es sehr hilfreich, die Augen zu öffnen und den Gewitterwolken erst einmal etwas Positives abzuerkennen: dunkle Gewitterwolken bedeuten Regen; Regen, der wichtig sein kann, damit die kleinen Pflanzen Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen wachsen können. Sicher ist es nicht immer leicht, hinter dunklen, kalten Wolken die warmen Strahlen der Sonne zu vermuten, da der Mensch gewöhnlich nur das glaubt, was er sehen kann. Doch es gibt immer einen Ausweg, man muß nur bereit sein, sich seinem Spiegelbild zu stellen, das von den Wolken reflektiert wird. Dabei stellt er dann meist fest, daß sich das Abbild weniger mit dem jammervollen Anblick von Angst und Mutlosigkeit deckt, als vielmehr dem hoffnungsvollen Anblick von Selbstwerten und eigenen Fähigkeiten. In seinem Garten Leben gedeihen die unglaublichsten Pflanzen, und manche davon erkennt er erst, wenn Wolken die Sonne verdecken, da sie erst dann ihr rechtes Licht verbreiten. Sie blühen im Verborgenem, sie leben in den Schatten der Nacht, in den Sümpfen der Schwermut, in der Höllenglut der Angst und Leere. Dort verbreiten sie ihre eigene Natur, die sonst nirgends zu finden ist. Sie gehören zu unserem Leben dazu. Das Leben wäre nicht unser Leben, wenn es sie nicht gäbe. Leben bedeutet Wandel, Änderung, Anpassung, Stetigkeit und auch Rückschau.

Es ist ein schönes Gefühl auf sicheren, hell erleuchteten Wegen, in der Sonne zu wandern; auf Wegen, die durch materielle und ideelle Werte abgesichert sind, auf denen man sich treiben lassen kann, auf denen einem alles bekannt und freundlich erscheinen mag. Nichts scheint den Blick zu trüben, nichts weist darauf hin, daß irgend etwas Unbekanntes Angst und Mißtrauen erwecken könnte. Und nur schwer begreift dann der Mensch, daß das nicht immer so sein kann. Aber wer den Mut aufbringt, sich der Dunkelheit anzuvertrauen, sich auf eigene Werte besinnt, dem bietet eine Wanderung im Unwetter des Lebens neue Erkenntnisse, die dem Sonnenmenschen versagt bleiben. Denn dieser hat es nicht gelernt, im Schatten zu gehen, dort ist ihm leicht kalt, er empfindet die schattige Kühle eher als tragisch, denn als Beruhigung aufgeheizter Haut. Doch ein Mensch, der aus langer Dunkelheit wieder einmal das Sonnenlicht erblickt, versteht vielleicht, die kurzen Momente eines einzigen Sonnenstrahls als Belohnung für die lange, kalte Dunkelheit zu begreifen, als Geschenk, daß ungleich mehr wert sein kann, als ein Leben auf der immer gleichen Sonnenseite, die kaum Abkühlung und Beruhigung zu bieten hat.

In diesem Garten gedeihen viele Pflanzen. Er ist bunt und farblos zugleich. Es gibt Menschen, die uns vertraut sind, die wir mögen und gern um uns haben; so wie es Menschen gibt, die für uns weniger anziehend sind; Menschen, deren Schicksal wir über viele Jahre teilen, und solche, die nur einen kurzen Augenblick unseren Lebensweg kreuzen. Es gibt Pflanzen, die uns immer wieder begegnen, die uns vertraut sind, und welche, deren Namen wir nicht einmal wissen, manchmal auch nicht wissen wollen; solche, deren Existenz uns verborgen bleiben, weil wir bisher diesen Teil des Gartens noch gar nicht kennen, vielleicht auch niemals kennenlernen werden. Es kann sein, daß wir diesen Weg bisher übersehen haben, weil wir ihn als nicht lohnenswert betrachten, weil wir vielleicht zu sehr auf Anderes achten. Es gibt Wege in diesem Garten, die wir vor Jahr und Tag gegangen sind, und später nie wieder; es gibt Wege, die man sich nicht traut zu gehen, manch vergangene Wege sind auch darunter. Es gibt Wege, die Erinnerungen wecken, die man viel lieber unterpflügen würde. Dazu müßte man sie dann noch einmal gehen. Und es finden sich Wege, vor denen wir Angst haben, zu denen es uns magisch hinzieht; Wege, die uns lieb geworden sind, die wir nicht missen wollen. Manche Wege werden begleitet von einem Immergrün, das niemals blüht, aber auch niemals welkt, das unseren Weg säumt, wohin wir auch gehen. Manchmal ist dieses Immergrün schön anzusehen, manchmal wirkt es aber auch erdrückend, gerade weil es immer und überall zu sehen ist. Manchmal verbirgt sich hinter dem Immergrün ein bunter Reigen der seltensten Pflanzen, die den Tauperlen eines gerade überstandenen Gewitters Unterlage bieten. Manches Mal weist das Immergrün auch den Weg zu bekannten Pflanzen, die so allerdings ein neues Gesicht bekommen. Vielerlei Wege in diesem Garten sehen aus wie die Wege eines gepflegten Parks, andere wie das Ebenbild einer wilden Steppe oder eines naturbelassenen Gartens, in dem sich so allerlei Flora und Fauna breitmacht. Manche Pflanze wird gehegt und gepflegt, auch wenn sie giftig und noch so schädlich für uns ist, und andere, gleichsam wie Heilkräuter, werden als Unkraut entfernt oder vernachlässigt, daß sie schließlich von selbst eingehen. Es ist allerdings schwer, ein allgemein gültiges Statement darüber abzugeben, welche Pflanzen gefördert und welche vernachlässigt werden können oder gar müssen. Für jeden Menschen können sie unterschiedlich von Bedeutung sein. Man muß wohl ausprobieren, welche Pflanzen für einen geeignet sind, welche in den eigenen Garten passen, und ob sie sich miteinander vertragen. Wenn sie zu uns passen, dann sollte man sie fördern und vielleicht viel öfter pflanzen; wenn sie uns eher schaden, dann sollten wir uns getrost von ihnen trennen, auch wenn es uns noch so schwer erscheint.

Es gibt Menschen, die ihren Garten nicht pflegen, ihm nicht das entsprechende Interesse schenken, die ihren Garten keineswegs als Geschenk ansehen, sondern nur als Verpflichtung. Sie lassen oft die guten Anlagen verkümmern. Dann kann er keine Freude mehr empfinden, für die kleinen Sprößlinge, die neue Saat, den Wechsel der Jahreszeiten, die das Bild dieses Gartens prägen. Und gerade der Wechsel der Jahreszeiten birgt so unvergleichlich viele schöne Dinge, an denen man sich erfreuen und reifen kann. Dieser Wechsel macht das Leben schön, weil es immer wieder neue Dinge zu entdecken und immer wieder neue Aufgaben gibt, für die zu arbeiten, für die zu leben sicher lohnt, auch wenn wir es erst viel später erkennen werden. Der Garten des Frühlings ist wie geschaffen zur Grundsteinlegung, zur Manifestierung bestimmter guter, nützlicher und auch weniger positiven Eigenschaften, Bedingungen und Voraussetzungen. Der Regen und die Sonne tun ihr Übriges, um vorhandenen Pflanzen zu fördern und dem Sommer die Tür zu öffnen. Und wenn der Sommer endlich kommt, ist die Saat längst ausgebracht, die dann ihre ersten Früchte hervorbringt. Dann können Wind und Regen manche Pflanzen des Frühlings vergehen lassen, um anderen Platz machen, die in der Sommersonne besser gedeihen können. Manche Pflanzen erleben im Frühjahr ihre Zeit, manche im Sommer und sicher viele auch noch im Herbst. Und wenn der Herbst mit seinen Stürmen naht, werden die besten Ernten heimgefahren, zeigen viele Pflanzen ihr schönstes Kleid, weil sie ausgereift sind. Und der Mensch erfreut sich daran. Er blickt zurück auf die getane Arbeit, auf die Erfolge und Verluste. Dann zeigt sich, ob seine Saat wirklich aufgegangen ist, ob seine Arbeit erfolgreich war, ob die Wahl der Pflanzen richtig war. Die Sonne erwärmt desgleichen noch den Boden, auf dem wir unsere Ideale verwirklicht haben, wie die brachliegenden Felder, die ungenutzt geblieben sind. Wenn das Ergebnis nicht so ausfällt, wie wir es erhofft haben, wünschten wir uns oftmals, noch einmal von vorn beginnen zu können, um die freien, ungenutzten Felder dieses Mal nicht zu übersehen. Doch es nutzt nicht viel, denn der Winter kommt mit aller Macht; er deckt mit wunderbar weichem, weißem Schnee alles zu, ob es ein gutes oder schlechtes Feld gewesen ist. Dann sieht alles gleich aus. Manchmal wirkt der Schnee wie der „Mantel des Vergessens“, doch man weiß, was man getan hat, daß man alles getan hat, was notwendig war, daß mehr nicht zu tun gewesen war und erkennt vielleicht unter dem ersten Schnee die Wege wieder, auf denen man gegangen ist, die Felder, auf den denen eine gute Ernte gestanden hatte, und vielleicht sogar noch die ein oder andere Pflanze, die den ersten Frost überdauert hat und ihre Blüten zaghaft aus der Schneedecke streckt. Dann entstehen bunte Flecken auf dem weiten, weißen Areal, das dann nicht mehr so bedrohlich wirkt. Vor allem bietet dieser beginnende Winter noch manch schönen Tag, an dem man sich erfreuen sollte, ohne Bitterkeit über das Vergangene, ohne Traurigkeit über das Unwiederbringliche. Einmal wird ein letztes Mal die Sonne scheinen, ein letzter Regenguß aus wolkenverhangenem Himmel die Erde benetzen, auf der schon bald wieder neues Leben wachsen und gedeihen wird. Das ist nicht leicht, aber ich denke, daß die Erinnerung an all die schönen Erlebnisse, die Niederschläge und Erfolge, ein unzerstörbares Eigentum unseres Geistes und unserer Seele sind. Und wenn sich danach die Natur zur Ruhe legt, kann man mit Befriedigung auf sein Leben zurückblicken und hat nicht das Gefühl, etwas nicht getan, etwas nicht erreicht zu haben, auch wenn man nicht alles hat erleben können, was man sich in mehr oder weniger kühnen Träumen ausgedacht hat.

Doch bevor es soweit ist, daß einem der eisige Wind des Winters die ersten Schneeflocken in die Augen weht, bevor das Eis des Vergessens sich über die Seen der Traurigkeit legt, bevor die Dämmerung die Blütenkelche schließt, entsteht in jedem Augenblick neues Leben, anders als zuvor, als Summe unserer Erfahrungen, als Mosaiksteine eines kunstvollen, einzigartigen Fresko, als Kind der Phantasie. Mit jedem Tag, mit jeder Begegnung, mit jedem Abenteuer, wächst ein Bild heran, das, einem Puzzle gleich, nach Vollendung strebt. Ein Kunstwerk entsteht, das für den einen vollkommen erscheint, einen anderen jedoch nicht befriedigen mag. Ein fremdes Artefakt erscheint undurchsichtig, konfus, auch wenn es doch einer bestimmten Linie folgt, die genauso wenig falsch ist, wie die eigene. Jeder sieht die Welt aus seinen Augen, und was für den einen die Erfüllung seiner Träume ist, mag dem anderen nicht seine Bedürfnisse stillen. Erlebnisse sind individuell, so daß auch gleiche Erfahrungen unterschiedlich erlebt werden. Was dem einen unerträglich, unüberwindlich ist, mag dem anderen die wahre Herausforderung sein, der er sich stellt, obwohl nicht klar ist, welchen Sinn es macht und ob es ihn überhaupt weiterträgt durch den Garten. So ist jeder Mensch, jedes Leben einzigartig, ein Unikat, das nach ureigenen Regeln und Gesetzen gelebt wird. Sicher gibt es Erlebnisse, die gleiche Impressionen in verschiedenen Menschen auslösen. Doch ist grün nur deswegen grün, weil es allgemein so festgelegt ist. Doch wie einer das Grün empfindet, hängt davon ab, welche Vorstellung er damit verbindet. Dem einen Menschen ist das gleiche Grün möglicherweise dunkler als dem anderen, vielleicht sogar unangenehm zu sehen. Und was wäre, wenn es gar nicht grün ist? Wer sagt mir denn, daß das wirklich grün ist, was ich da sehe? Gefühle werden vielfach ähnlich empfunden, auch wenn die Bedingungen sich ändern. So wird z. B. Freude ähnlich gespürt und Trauer ähnlich gelitten, auch wenn der Grund dafür ein anderer ist. Andererseits ändert sich das Gefühl von Freude, wenn der Anlaß ein anderer ist, oder wenn er unterschiedlichen Stellenwert für den einzelnen hat. So auch die Trauer über den Verlust eines Menschen, wenn die persönliche Beziehung zu ihm eine andere war. Es gibt also zu allen Dingen unterschiedliche Blickwinkel, aus denen sie sichtbar werden. Was mich heute erfreut, weil ich mich darauf vorbereitet habe, viel von mir selbst eingebracht oder es vielleicht geschenkt bekommen habe, mag an anderer Stelle oder zu anderer Zeit vielleicht nur mäßige Freude aufkommen lassen. Vielleicht liegt es dann daran, daß es eine Sache unter vielen ist, eine Sache, mit der ich augenblicklich nichts anfangen kann. Das eigene Leben formt sich aus fremden Augen anders, so wie sich auch erduldete Widrigkeiten, überstandene Abenteuer, im Rückblick anders darstellen als im momentanen Erleben. So bildet sich im Laufe des Lebens ein Weltbild heraus, was aus eigenen Augen einleuchtend, geradlinig sein mag, aus anderer Sicht jedoch chaotisch und unausgereift erscheint. So wird zwar Grün nicht zum Blau, aber wie die Farbe empfunden wird, hängt von den Assoziationen ab, die als Vergleich herhalten müssen. Es gibt feste Werte, an denen sich der Mensch halten kann, aber das eigene Empfinden vermag diese Daten zu ändern. Ein Holzschemel mag dem einen bequem genug sein, da er vielleicht einem bestimmten Zweck dient, dem anderen als ein völlig ungeeignetes Möbelstück vorkommen, weil er damit nichts anzufangen weiß. Dafür sucht er sich vielleicht eine andere Sitzgelegenheit, auf der er es bequem hat, die für seine Zwecke nützlich ist. So ist jedes Leben aus der Sicht des Betroffenen einzigartig. Auch wenn es nicht immer mit günstigsten Voraussetzungen beginnt und so leicht gelebt werden kann, wie man es vielleicht erhofft, bleibt es für jeden immer eine einmalige Erlebnisreise mit vielen Abenteuern, Träumen und Tränen. Sie gehören dazu, sie machen das Leben aus, gestalten es und formen jedem sein eigenes Weltbild. Auf manche Dinge haben wir selbst Einfluß, auf andere Dinge unsere Umwelt. Aber manche Ereignisse wiederum sind völlig losgelöst von unseren Wünschen und Forderungen. Sie werden Schicksal genannt, das vegetative Nervensystem des Lebens, die Quelle der individuellen Gedanken, Gefühle und Handlungen. Einem Mensch, der körperliche oder geistige Gebrechen in sein Leben mitbringt, mag es genauso gelingen, ein lebenswertes und ausgefülltes Leben zu führen, wie einem Menschen, der nie mit derartigen Problemen konfrontiert wurde. Ersterer kann ebenfalls zielstrebig auf sein Glück und seine Zukunft hin leben. Er kann aus seiner Startposition heraus möglicherweise sogar mehr erreichen als der andere. Auch wenn sein Endziel vielleicht am Anfang des Lebensweges des anderen steht. Für ihn steht sein persönlicher Erfolg ebenfalls im Mittelpunkt. Dem Anderen scheint es vielleicht unmöglich, auch mit weniger guten Startbahnen und weniger hoch gesteckten Zielen zufrieden zu sein und glücklich zu werden. Auch Menschen mit ähnlichen Ausgangspunkten können unterschiedliche Erwartungen und Ziele haben und auch erreichen, da sich die Bedingungen individuell ändern. Die familiäre Herkunft, die Basis der Erfahrungen, bedeutet nicht, daß sie notgedrungen nur so weit oder in jedem Fall nur so weit reichen. Ein Arbeiterkind kann bei entsprechendem Einsatz und Förderung ebenso zum Akademiker „aufsteigen“, wie ein Akademikerkind möglicherweise in seinem Leben mit weniger geistigem Überblick auskommt, weil die Absicht eine andere ist. Genauso prägt auch der außerfamiliäre Umgang das junge Leben, kann es auch sein, daß der Mensch erst im reiferen Alter die Möglichkeiten erhält, die andere schon in jungen Jahren gehabt haben.

Das Leben läuft nicht starr nach einem allgemeingültigen Fahrplan ab, jeder hat für sich die Fähigkeit, aus seiner Grundposition auszubrechen, auch seine einmal gefaßten Beschlüsse zu ändern. So ist es möglich später Weichen neu zu verlegen, um aus einer Sackgasse wieder herauszufinden. Dabei unterlaufen einem sicher manche Fehler, aber sie bieten auch die Möglichkeit, es noch einmal und diesmal anders zu versuchen. Fehlschläge sind wie eine Blutwäsche, sie geben den Weg frei zur Erneuerung, so wie Erfolge den Weg ebnen für das Vorwärtskommen. Verglichen mit dem Lebensgarten bedeutet dies, daß aus dem Welken einer Pflanze auch etwas Neues, Gutes entstehen kann, man hat Platz und Gelegenheit für eine Neugestaltung dieses Beetes. Manchmal entstehen dadurch auch neue Wege, die sich dem Bild des Gartens besser anpassen, von denen man vorher nie etwas geahnt hatte. So wird aus einer Giftpflanze zwar kein Heilkraut, aber es wäre möglich, das Gift zu begrenzen, vielleicht sogar zu beherrschen und für gute Zwecke zu nutzen. Der Garten birgt viele Geheimnisse, die überall zu finden sind. Manches gibt es auch in anderen Gärten, aber die Architektur des Gesamtwerkes unterscheidet sich immer. Was der Gärtner daraus macht, ist das Entscheidende. Seine Phantasien, sein Denken, sein Fühlen und Handeln, formen daraus eine einmalige Anlage, die sich nirgends ein weiteres Mal finden läßt. Er muß den Mut haben, neue Wege zu gehen, seine Phantasien auszuleben und neue Kreativität zuzulassen. Dann entsteht Tag für Tag ein neuer Garten, in dem er immer wieder neue Dinge für sich entdecken kann. Manchmal mag es ihm schwerfallen liebgewonnene, aber dennoch schädliche Pflanzen zu entfernen, unterzupflügen oder herauszureißen. Doch wenn er sieht, daß vielleicht etwas viel Schöneres wächst, wird er gerne den Spaten zur Hand nehmen; weil er weiß, daß es sich lohnt. Es gibt auch Zeiten, da ist er blind, dann übersieht er das ein oder andere Unkraut. Dann hilft es vielleicht, wenn ein anderer ihm zeigt, was im Argen liegt. Obwohl nicht alles, was andere für Unkraut halten, auch wirklich Unkraut ist. Die Entscheidung über sein Werk, sein Leben, trifft jeder Gärtner für sich. Er muß seinen Garten gut kennen und seinen Wegbegleitern auch vertrauen können, damit er nicht versehentlich Pflanzen zerstört; die für ihn von Nutzen sind. Er muß immer wieder mit offenen Augen durch seinen Garten gehen und nach dem Rechten sehen; er muß dafür sorgen, daß seine Kulturen nicht Schaden nehmen. Er darf nicht vergessen, was wichtig für ihn ist. Und auch, wenn er in anderen Gärten weilt und arbeitet, muß er ebenso gewissenhaft sein Werk beachten. Denn er ist genauso Erfüllungsgehilfe seiner Wegbegleiter wie sie für ihn. Und vielleicht ist es ihm dann vergönnt, etwas ganz Besonderes hervorzubringen, an dem nicht nur er Freude hat, sondern auch die Menschen, mit denen er durch seinen Garten geht, die ihm bei seiner Arbeit helfen und ihm neue Impulse geben, weil auch sie einen großen Teil ihres Denkens, Fühlens und ihrer Phantasien in diesen Garten einbringen. Vielleicht wachsen seine Phantasien gerade in dem Garten seines Freundes, weil dieser sie zu wecken versteht. Ohne Helfer würde er nie fertig, würden seine Ideen vielleicht in einer Einbahnstraße verkümmern. Es kämen kaum neue Ideen, weil ihm auch der Gedankenaustausch fehlen würde. Nicht, daß seine eigenen Phantasien und Fähigkeiten nicht ausreichten, jedoch braucht er die Hilfe dieser Menschen, um seine Phantasien und Fähigkeiten zu entfalten, sich dieser manchmal erst bewußt zu werden. Denn was der Mensch in seinem Leben zeigt, ist sicher nur ein Bruchteil dessen, was er wirklich zu leisten imstande ist. Doch der Mensch ist von sich aus ein sehr bequemer Charakter. Oft reicht es ihm zum Leben, wenn er seine Grundbedürfnisse gestillt sieht, doch die Anregung von außen spornt ihn an, mehr und manchmal auch alles aus sich herauszuholen. Seine natürliche Neugier bewahrt ihn davor, schon zu früh aufzuhören zu eigen zu machen, und hilft ihm, seinen Horizont zu erweitern. Er lernt mit dem Neuen und in seinem Garten zu leben, aus seinem Garten das Beste herauszuholen, mit Gegebenem und über noch so kleine Erfolge glücklich und zufrieden zu sein. Und wenn es auch für andere unbefriedigend erscheint, so ist es doch jedem selbst überlassen, was er wirklich tut. Er trägt die Verantwortung dafür, ob er alles gibt, was er kann. Und meist tut er es auch. Doch manchmal werden vorhandene Anlagen nicht ausreichend gefördert, vielleicht verliert er auch die Lust weiterzumachen, und dann kann es passieren, daß vorhandene Pflanzen verkümmern und schließlich absterben. Oder es wachsen Pflanzen, die weniger dem eigentlichen Naturell und seiner Veranlagung entsprechen, mit denen er weniger anfangen kann, die das Bild seines Gartens verzerren, die seinen Garten zu einem Fremdkörper der eigenen Phantasie werden lassen. Sowie es auch sein kann, daß seine Wegbegleiter nicht einverstanden sind mit dem, was er tun möchte, oder ganz andere Erwartungen an ihn stellen. Aus einem Gärtner, der sich lieber mit Bäumen und Sträuchern beschäftigt, wird nur schwer ein guter Florist. Auch wenn andere diese Erwartung an ihn stellen und vielleicht davon ausgehen, daß auch diese Fähigkeiten in ihm stecken könnten. Meist sind es die unerfüllten Träume derer, die diese Erwartung stellen. Sie selbst hätten vielleicht die Fähigkeit, sich ihren eigenen Garten nach ihren Wünschen und Zielen anzulegen. Wenn sie es dann nicht getan haben, gibt es kaum eine Möglichkeit, diesen Umstand zu ändern. Niemand kann der Gärtner im Garten des anderen sein, immer nur sein Gehilfe. Doch ohne diese Gehilfen hätte es jeder Gärtner schwer, den Überblick zu behalten, seine Arbeit zu beenden und seinem Garten zur vollen Blüte zu verhelfen. Und er hätte keine Zeit, auch einmal in anderen Gärten zu schweifen, Neues auszuprobieren, oder auch einmal nur auszuruhen.

Des Menschen Dreieinigkeit aus Denken, Fühlen und Handeln macht ihn zum Individuum. Seine Phantasie macht daraus etwas Besonderes, etwas Einmaliges, was kein anderer für ihn wiederholen kann. Denn die Vision des einzelnen ist es im Wesentlichen, die dem Garten sein Gesicht gibt. Wer sich selbst die Chance vergibt, wird nie die ganze Pracht seines Gartens erfahren, weil sie sich nicht entfalten kann. An ihm selbst liegt es, ob es sich für ihn gelohnt hat. Der Preis für das Leben ist der Tod; mit ihm wird alles Leben bezahlt, egal wie es gelebt wurde, gleich welche Ziele verfolgt und vielleicht auch erreicht wurden. Das Sterben und der Abschied ist Bestandteil des Lebens, denn aus ihm geht er hervor. Nur wo etwas stirbt, kann sich neues Leben entfalten, er begleitet uns ein Leben lang. Der Mensch ist allerdings das einzige Lebewesen, das sich Gedanken über seinen Tod zu machen scheint, und dabei nachdenklich wird. Tiere und Pflanzen, ebenso Lebewesen, gehen mit dem Tod wesentlich unbeschwerter um. Sie haben scheinbar gelernt, damit zu leben, für sie ist er vielfach überlebenswichtig. Manche Tiere und Pflanzen leben nur solange, bis sie sich fortgepflanzt und vermehrt haben, oder ein anderer ihren Tod für das eigene Überleben in Kauf nimmt. Sicher haben sie auch Angst zu sterben, verteidigen ihr Leben bis zum letzten Atemzug, aber sie fügen sich wesentlich eher in ihr Schicksal. Der Mensch ist an diesem Punkt wesentlich empfindlicher. Wer denkt schon gern darüber nach, daß er irgendwann, vielleicht schon am nächsten Morgen, von Maden angefressen in einer dunklen Holzkiste liegen könnte? Um nichts mehr macht sich der Mensch sein Leben lang Gedanken, ersinnt Methoden und Medikamente, die das Leben verlängern, versucht dem „Sensenmann“ davonzulaufen, solange es irgendwie geht. Dabei vergißt er so manches Mal, daß er doch noch lebt, solange er darüber sinniert, was NACHHER aus ihm wird. Wissenschaft und Technik ermöglichen einen gewissen Aufschub, aber niemals wird es gelingen, der Tatsache ganz zu entrinnen. Solange es ihn selbst nicht betrifft, kann der Mensch töten, kann den Tod anderer auch verkraften. Doch der Gedanke an den eigenen Tod erschreckt alle, deshalb versuchen sie etwas zu schaffen, was über das eigene Leben hinaus Bestand haben kann. Sei es, Kinder in die Welt zu setzen; sei es, etwas Beständigeres zu schaffen, ein Kunstwerk vielleicht, ein Denkmal oder ähnliches. Niemand vermag zu beschreiben, was nach uns ist, deshalb potenzieren sich die Gerüchte darüber ebenso ins Unermeßliche. Die Phantasien über den Tod und seine Substanz werden immer weiterleben, so wie das Leben die unterschiedlichsten Geschichten schreibt. Das allein ist unsterblich. Alles Faßbare stirbt mit der Zeit, aber das Unfaßbare überdauert alle Zeiten. Das Leben jedes einzelnen Menschen, jedes einzelne Leben, ist unvergänglich, auch wenn der Körper sich von der Seele und dem Geist ablöst, sobald dessen Aufgabe erfüllt ist. Das geistige und seelische Potential überlebt immer, denn deren Aufgaben erfüllen und vollenden sich nie. Das Vermächtnis der Gefühle und Gedanken lebt in jedem Menschen weiter. Und solange es Menschen auf der Welt geben wird, werden diese Anlagen das Bild des Menschen formen.

Der Garten wird immer bestehen; auch wenn der Gärtner kündigt. Es wird einen neuen Gärtner geben, der seine Aufgaben übernimmt, es bleibt immer etwas zurück. Die Arbeit an diesem Garten, welcher Art sie auch war, wird immer zu sehen sein. Sie wird sich wandeln, aber nie gänzlich verändern. Und sie wird niemals beendet sein. Der Tod bestimmt unser Leben, sobald wir uns seiner bewußt werden. Das Leben ist der Weg, der Tod das Ziel allen Seins und Werdens. Um den Thanatos, dem Streben zum Tod, dreht sich unser Leben. Natürlich liegen vor diesem endgültigen Ende eines Lebens etwa siebzig Jahre, manchmal mehr und manchmal auch wesentlich weniger. Aber egal, wie lange wir auf Erden weilen, wir haben immer genug Zeit, all unsere Ziele zu verwirklichen, wir müssen sie nur definieren und darauf zugehen. Wer keine Ziele hat, geht eher; wer viele Ziele hat, bleibt auch meist solange, wie er dafür braucht, um diese zu verwirklichen. Wenn ein Mensch seine Ziele wahrhaftig verfolgt und immer wieder an ihnen arbeitet, sie den sich wandelnden Voraussetzungen anpaßt, hat er zudem gar keine Zeit, sich über vertane Jahre zu beklagen, weil sie nicht vertan sind, egal wie lange er braucht, oder wie lange er die Früchte seines Lebens genießen darf. Das Leben und der Tod sind Weg und Ziel zugleich; für jeden Menschen, für den einen mehr, für den anderen weniger. Wer in ihm wandelt, ist ihm verpflichtet, ob er will oder nicht. Es gibt Menschen, denen liegt etwas daran, alles zu geben, um etwas zu erreichen; und es gibt Menschen, die beschränken sich auf das Minimum, um den Garten am Leben zu erhalten, bzw. nicht sterben zu sehen.

Doch der Garten kann noch viel mehr, mehr als ein Gärtner allein erreichen kann. Er ist Basis und Summe aller Gedanken, Phantasien, Taten und Gefühle der Menschen, die gelebt haben, die heute leben und derjenigen, die morgen leben werden. Es mag schwer zu sein, sich die Größe des Gartens auszumalen, ebenso schwer, wie die Ausmaße des Universums zu berechnen. Aber vielleicht stimmt das Größenverhältnis auch im Bezug auf uns als Gärtner. Vielleicht ist dieser Garten ebenso groß wie das Weltall, welches wir sicher niemals definitiv ergründen werden; doch wir können und müssen es versuchen. Sowie mit bloßem Auge etwa 2000 Sterne sichtbar sind und mit immer besseren Teleskopen sich die Anzahl der sichtbaren Gebilde im Weltall multipliziert, wächst die Anzahl unserer Pflanzen, die Größe des Gartens, mit jedem Augenblick, den wir darin verbringen, ihn und seine Pflanzen pflegen und bewahren. Das Leben ist zu kostbar, zu phantastisch, als daß man es einfach verwerfen kann, ebensowenig wie die Phantasie von außerirdischer Intelligenz. Wer sagt denn, daß wir allein die Intelligenz dieses Garten sind? Wer sagt denn, daß unser Garten der einzige, der beste ist? Vielleicht gibt es noch einen oder Millionen schönere, größere. Dennoch ist der eigene für jeden persönlich der schönste, der einzige. Wir haben nur eine einzige Chance uns als Gärtner zu bewähren, zu beweisen. Wir müssen uns der Herausforderung stellen, sie sinnvoll nutzen. Sowie jede Sekunde unseres Lebens einzigartig und einmalig ist, sind es auch die Summe aller Sekunden und Augenblicke, die wir in diesem Garten wandeln dürfen. Es ist nicht unser Verdienst, daß wir da sind, aber es ist allein unser Verdienst, was wir daraus machen. Und wenn wir nichts daraus machen, dann ist es auch unser Verdienst. Niemand kann für den anderen leben, denken, fühlen oder handeln. In erster Linie lebt jeder für sich und seine Ziele, seine Wege, das Füreinander kommt erst danach. Nicht immer ist es so klar zu trennen, manchmal bearbeiten wir das Beet eines anderen mit, weil wir gerade mit ihm unterwegs sind, weil er uns gerade braucht. Aber an anderer Stelle, an der nächsten Wegbiegung, bedürfen wir der Hilfe eines Menschen, gerade des Menschen, dem wir geholfen haben. In dieser Gemeinsamkeit sind wir stark, weil wir nur zusammen unser Ziel erreichen: die Gestaltung eines Gartens, eines Beetes, eines Weges, den wir gemeinsam gegangen sind. So lebt niemand wirklich für sich allein; so braucht niemand allein die Last und Freude des Daseins erleben; so hat man immer jemanden, auf den man sich berufen kann. Und wenn die Zeit gekommen ist, kann es geschehen, daß man sich an einer Wegbiegung trennt, weil man unterschiedliche Ziele verfolgt. Doch die Erinnerung an den gemeinsamen Weg bleibt, und geht man in der Erinnerung diesen Weg wieder zurück, so werden die Erlebnisse wieder wach. Wenn ein Mensch beginnt, seinen Garten zu erleben, wird dieser mit jedem Tag größer, abenteuerlicher aber auch unüberschaubarer. Mit jedem Tag, mit jedem Stück Weg, entfernt der Mensch sich immer mehr von seinem Ursprung, mit jedem Erlebnis, mit jedem Stück Freude, jedem Augenblick der Trauer, wird sein Garten sein Gesicht ändern. Mit jedem Gefühl, mit jedem Handgriff, mit jedem Gedanken, der seine Schritte lenkt, wird der Garten zu einem einzigartigen Erlebnis, das unwiederbringlich ist.

Für ein Kind scheint meist den ganzen Tag die Sonne, egal, ob man als Erwachsener es immer versteht. Ein Kind, dessen Wahrnehmung noch nicht alles erfassen kann, erlebt diesen Garten als das Einmalige, das er sicher ist. Der Blick ist noch ursprünglich und naiv, frei von Angst und Vorurteilen. Ein Kind freut sich noch über die kleinen Dinge, über das kleine, unscheinbare Pflänzchen am Wegesrand, dessen Existenz er als Erwachsener meist nicht mehr bemerkt. Es ist neugierig auf alles, was um es herum ist. Alle Dinge haben für das Kind den gleichen Stellenwert. Ein Erwachsener bemißt den Wert eines Erlebnisses, einer Sache oder eines Menschen mit oft ausschließlich rationalen, manchmal auch materiellen Maßstäben. Welchen Nutzen ziehe ich aus dieser Sache? Was kostet es mich, wenn ich jenes mache? Bringt mir diese Beziehung Geld, Einfluß, Macht? Wie kann ich den Preis drücken, damit ich Profit daraus ziehen kann? Ein Kind ist viel ehrlicher und offener. Der ideelle Wert einer Sache, eines Gedankens, eines Weges bleibt dabei oftmals außen vor. Ein Kind sieht in erster Linie in allem etwas Gutes, Positives, es unterscheidet nicht nach materiellen Werten. Es spielt auch mit Kindern, die kein eigenes Spielzeug haben. Wenn es größer wird, lernt es, daß Gefühl und Phantasie nicht alles ist. Es erkennt den eigenen Vorteil, dem anderen sein Spielzeug wegzunehmen, um es für sich zu haben. Und es lernt vielleicht auch, daß man mit Kindern, die gar nichts haben, auch nicht spielen sollte. Meist sind dies Einflüsse der Großen, die nicht immer recht damit tun, aber das weiß es noch nicht. So wird es erwachsen und setzt seine Erfahrungen um … Im Laufe der Jahre wird aus einem unschuldigen Kind ein mehr oder weniger rücksichtsloser Mensch, der vielleicht mehr auf eigenen Vorteil bedacht ist. Und auch ein Mensch, der für eigenen materiellen Wohlstand gefühlsmäßig auf der Strecke bleibt. Natürlich ist es nicht unausweichlich so, die Umwelt kann das Kind auch zu sozialen Werten, zu offenem Handeln, daß für den anderen positive Ergebnisse mit sich bringt, erziehen. Und aus einem unschuldigen Kind wird ein erwachsenes Wesen, das weniger ich‑bezogen ist, und für andere Stütze und Hilfe ist, ohne permanent auf eigene Vorteile zu schauen.

In den Gärten mancher Menschen wachsen vielleicht die kostbarsten Blumen, die seltensten Sträucher und exotischsten Bäume, aber man vermißt so etwas wie Geborgenheit, Frieden und Leben. In diesen Gärten regiert die „chemische Keule“, die manch liebenswert anzusehendes Unkraut, manch nützliches Ungeziefer wegätzt, welche einen Garten erst zum Leben erwecken. Sie mögen ja schön anzusehen sein, geradlinig, steril und ordentlich, aber wohl fühlen kann man sich dort nicht unbedingt. Und auf Dauer fehlt es einem doch: das Ungeziefer, das Unkraut, die vielen Tiere, die davon leben, die Vielfalt lebendigen Seins, die in anderen Gärten möglich ist. Der Garten muß nicht groß sein, aber er darf nicht zu einer Monokultur verkommen. Der kleinste Garten mit soviel Farbe wie möglich ist sicher schöner als der größte, der großflächig und einseitig bewachsen ist.

So ist auch ein Leben auf einsamen Wegen nicht schön. Denn was habe ich von all den Dingen, wenn ich sie nicht teilen kann, wenn ich mich nicht mitteilen kann? Dann wird es still in mir, so still wie in einem Garten, in dem es weder Unkraut, Ungeziefer und morgendliches Vogelzwitschern gibt, sondern nur mich in einen eintönigen Garten, der niemandem wirklich Freude bereitet, und die vermeintlich wertvollen Pflanzen, die sich nicht mit anderen vertragen. Der Garten bliebe isoliert und könnte niemandem Schutz bieten, am Ende noch nicht einmal mehr dem Gärtner selbst. Das Leben ist nicht isoliert zu betrachten, weil viel zu viel davon abhängt, weil niemand ohne Leben leben kann. Nur wer seinen Garten abwechslungsreich gestaltet, führt ein ebenso vielfältiges und spannendes Leben. Und das ist so ungeheuer wichtig, gerade im Hinblick auf die Tatsache, daß es gerade die Erinnerungen, die Träume sind, die uns in diesem Garten vorwärts treiben, die uns mit Neugier ausstatten, alle denkbaren Winkel auszukundschaften. Sie geben uns die Kraft, immer wieder Neues auszutesten, Niederschläge zu verkraften, Freude über noch so kleine Erfolge empfinden zu lassen. Ohne die Erinnerungen und Träume veröden die Beete, verwelken wertvolle Pflanzen, wachsen kaum neue Triebe, die den Fortbestand einer Spezies sichern.

Doch gerade diese neuen Triebe machen das Leben zu dem, was es ist: zum schönsten, farbenprächtigsten Abenteuer, zur intensivsten Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Umwelt, zum einzigen, wofür zu leben sich wirklich lohnt. Denn nur durch neue Erlebnisse, neue Erfahrungen und Gedanken entstehen Phantasien von einer Welt, in der man leben möchte. Eine stagnierende Phantasie verkümmert genauso wie das kleine Pflänzchen, dem der Gärtner keine Aufmerksamkeit schenkt. Wer gedanken‑ und ziellos durch seinen Garten schlendert, kann nicht die Schönheit des Gesamten erkennen; wer sich neuen Eindrücken verschließt, kann nicht wachsen und gedeihen. Wenn der Mensch nicht wächst, wie sollen es dann erst die Pflanzen und Tiere, die ihm anvertraut sind? Und was hätte ein Mensch davon, wenn sein Leben in den immer wieder gleichen Bahnen abläuft, gleich einem Uhrwerk? Wenn er immer wieder auf den ausgetretenen Pfaden seines Gartens wandeln würde? Ich denke, er wäre es bald leid, würde sich an erstbester Stelle niederlassen, um dort langsam, aber unaufhaltsam sterben. Ohne den wahren Sinn seines Lebens erkannt zu haben, ohne für sich wirklich etwas geschaffen zu haben, auf das er nach verlebter Zeit mit Freude zurückblicken könnte. Es gäbe nichts, was er an seinen Nachfolger weitergeben könnte, was er der Welt schenken könnte, worauf er stolz sein könnte. Seine Ideen würden sich im ausgetrockneten Sumpf der Einsamkeit verlieren, seine Erinnerungen legten sich bleischwer auf die zarten Pflanzen, würden sie erdrücken, die Luft und das Licht zum Atmen nehmen und sein Körper wäre anfällig für an sich harmlose Krankheiten. Sein Selbstheilungstrieb würde verkümmern, und langsam aber stetig käme es zu einem unabänderlichen Stillstand seines Lebensmotors. So findet er sich dann zum Winter wieder und der Schnee bedeckt die Brachen seiner Seele, seines Geistes und seines Körpers. Eine lähmende Stille würde ihn umgeben, wenn er endlich mit Tränen in den Augen auf sein Leben zurückblicken würde. Dann kriecht in ihm womöglich das Gefühl herauf, ein zweites Mal zu sterben.

Das mag sich hart anhören, aber stimmt es denn nicht? Ein Mensch ohne Phantasie, ohne Antrieb, ohne Neugier auf die Gegenwart und Zukunft, verliert die Kraft, aus der das Leben entspringt. Er lebt nicht, er ist schon tot, bevor er gestorben ist. So wie eine welkende Pflanze immer mehr stirbt, bis auch das letzte Fünkchen Leben aus ihren Blüten und Blätter gewichen ist. Unser Garten ist ein Geschenk, ein Geschenk, mit dem jeder Einzelne sorgsam umgehen muß, denn es gibt keine zweite Chance. Wer seinen rechten Weg verpaßt, die falschen Pflanzen setzt, hat keine Möglichkeit, es noch einmal zu versuchen. Sicher, manche Erlebnisse, Erfahrungen macht man häufiger, aber jedes dieser Ereignisse bleibt einzigartig, auch wenn sie sich gleichen. Das Gleiche ist nicht Dasselbe! Wer einen falschen Weg beschreitet, sich mit Menschen umgibt, die ihm die Luft zum Leben nehmen, wer sich leichtfertig von guten Pflanzen, Beeten trennt, bereut es vielleicht später, kann es aber nur in den seltensten Fällen noch einmal probieren. Es wird nur nie mehr so werden, wie es einmal war. Ein umgepflügtes Beet läßt sich nur ungenau rekultivieren, es werden andere Pflanzen der gleichen Art sein, aber nie mehr dieselben, die er zuvor verworfen hat. Aber er wird vielleicht daraus lernen, zukünftig genauer hinzusehen, was er tut. Wege, die er einmal beschritten hat, werden Teil seines Ichs, die Gedanken und Erfahrungen, die er damit verbindet, werden ihn begleiten, wie das Immergrün, das jeden seiner Wege säumt. Und die Menschen, denen er begegnet, werden Teil seiner Geschichte, gestalten sie mit, verändern sie und er verändert deren eigene Geschichte. Oft über die Zeit hinaus, in der sie gemeinsam einen Teil des Weges gegangen sind. Die Eltern bleiben ein Leben lang Eltern, auch über die eigene Kindheit oder deren Tod hinaus. Die Erfahrungen, Abenteuer und Banalitäten unserer Kindheit graben sich tief in unsere Seele ein und bestimmen vielfach die weiteren Geschehnisse. Der Garten unserer Vorfahren bestimmt das Aussehen unseres Gartens, er wird Teil eines Ganzen, das sich immer weiter entwickelt, auch über unsere Zeit hinaus.

Man kann sich auch nach vielen Jahren der Wege und der Pflanzen erinnern, die dort einmal gewachsen sind, wenn man in Gedanken diesen Weg ein zweites Mal geht. Nicht lange, und die Erinnerung ist wieder frisch und lebendig. Das kann ein Segen und auch ein Fluch sein. Aber es ist immer wieder das gleiche. Was tief vergraben schien, was verloren schien, kommt wieder hoch, wie sich gerade alte Menschen an Zeiten erinnern, an Begebenheiten, Menschen, Daten und Namen, die schon Generationen lang in ihrem Unterbewußtsein „geschlafen“ haben. Dann wird die Vergangenheit zu neuerlich erlebbarer Gegenwart, dann scheint es erst gestern gewesen zu sein, dann wird der alte Mensch in Gedanken wieder zu dem Kind, das er einmal war, als die Erinnerung für ihn das Heute war. Genauso blickt jeder auf seine Vergangenheit zurück, egal ob sie zwanzig oder siebzig Jahre währt. Im Laufe des Lebens durchläuft man ebenso Entwicklungsstufen wie die restliche Natur. So wie das Jahr in Abschnitte eingeteilt ist, ist es auch das Dasein des Menschen. Im Frühling seines Lebens ist er Kind; ein Kind mit mehr oder weniger genauen Vorstellungen darüber, wie Leben funktioniert, was das überhaupt sein soll. Dieses Kind läuft in der Regel neugierig und fast schwerelos über blühende Wiesen, durch eine Welt, die neu und abenteuerlich ist. In dieser Zeit lernt es physisch laufen, auf beiden Beinen zu stehen und lernt im Spiel mit allen Dingen die Welt um sich herum begreifen. In dieser Zeit wachsen an seinen Bäumen die ersten neuen Triebe, wächst ein ganzes Heer an bunten Blumen auf den Wiesen. Es braucht gar nicht viel zu tun, damit es so ist es ist einfach so. Es scheint alles wie von Geisterhand geführt zu sein, und es findet seinen Weg durch die Zeit; sie vergeht, ohne daß ihm bewußt wird, was ein Jahr, ein Tag, eine Stunde ist. Es wächst heran, beginnt allmählich zu verstehen, daß es nicht immer alles nur ein Spiel ist. Es wird älter, aus dem Jungen wird ein junger Mann, aus dem Mädchen eine junge Frau. Nun wird erwartet, daß man erste eigene Aufgaben übernimmt, daß man seine ersten Beete und Felder bestellt, daß man die ersten Schritte allein bewerkstelligt. Sicher, es ist immer noch jemand da, der einen unterstützt, der einem zeigt, wie es geht, aber oft steht man allein an einer Wegbiegung und muß für sich selbst entscheiden, wie es weitergehen soll. Und plötzlich sagt man: Du bist erwachsen, sieh zu was Du tust, Du bist dafür allein verantwortlich. So rutscht man allmählich in die dritte Phase, in der man nur wenig Hilfen bekommt, sie aber auch nicht unbedingt will. Jetzt zeigt sich, ob die ersten Schritte im Leben recht gewesen sind, jetzt zeigen sich die ersten Früchte. Und man muß sie nehmen wie sie sind, auch wenn es nicht immer einfach ist. Schlußendlich gleitet man mehr oder minder heftig, mehr oder minder bemerkt, in die wohl schönste und gleichzeitig so traurige Phase des Altseins. Man blickt zurück auf einen Garten, der so unvergleichlich ist, weil er einzigartig ist. Man blickt auf ein Leben voller Erlebnisse, Ereignisse, Abenteuer, Ruhepausen zurück, und der Garten verschweigt nicht die vielen Jahre der Arbeit, die man eingebracht hat. Man sieht seinen Garten in Vollendung, wie er schöner, einzigartiger nicht sein kann.

Sicher erkennt man auch Fehler im Mosaik der Beete und Wege, würde das eine oder andere vielleicht noch richten wollen, aber dafür ist keine Zeit. Und das ist das Traurige daran, erst wenn die Arbeit getan ist, wenn man nach all den Jahren endlich die Gesamtheit seines Gartens erkennt, ist es zu spät, noch Korrekturen vorzunehmen. Dann erst recht muß man das Ergebnis akzeptieren und lernen, sich an den Gegebenheiten zu orientieren. Was vorher noch möglich gewesen wäre ist nun endgültig, wie eine Skulptur, die aus dem Stein gehauen wurde: Fehler im Detail sind später nicht mehr auszugleichen. Der Tod ist Ziel allen Strebens und Lebens, sei es, daß Pflanzen vergehen, Tiere verenden. Der Mensch kann ihm nicht ebensowenig entrinnen, in seinem Tod vollendet sich sein Werk und Wirken. Sein Garten lebt davon, daß das Eine stirbt, damit Anderes überleben, ja gar erst entstehen kann. Man kann den einen Weg nicht zweimal gehen, man müßte einen neuen Stein behauen, aber dann wäre es eine andere Skulptur, ein anderes Leben und nicht mehr die ursprüngliche Form. Doch bevor es soweit ist, hat man oft noch genügend Gelegenheit, in anderen Gärten zu wandeln, sie mit seinen Erfahrungen und Ideen mitzugestalten. Was vorher nicht möglich war, weil man zu viel für sich selbst an Zeit investieren mußte, läßt einen jetzt nicht nur die eigenen Erfolge und Niederlagen erblicken, man hat unendlich viel Zeit, sich selbst in anderen Gärten ein zweites Mal zu beweisen. Dieser Garten ist wirklich nicht das biblische Paradies, aber es kommt ihm verdächtig nahe, wegen seiner Einzigartigkeit der Pflanzenwelt, der Vielgestalt der Fauna, wegen seiner Abenteuer, die es bietet, wegen seiner Herausforderungen, die wir gierig annehmen. Nicht zuletzt die Phantasie, unser Mut und unsere Fehlbarkeit macht daraus das Paradies, in dem wir leben wollen und können; trotz oder vielleicht wegen seines Unkrauts, das unsere Äcker überwuchert, trotz der Schädlinge, die unsere Ernten vernichtet haben, trotz unserer Fehler, die wir nicht korrigiert haben, trotz der Schwächen, die wir nicht bekämpft haben. Ein Leben gleicht nie einem zweiten. Kein Garten ist die Kopie eines anderen, das allein schon macht ihn unsterblich – und damit zum Garten Eden.

 

 
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